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"Die Spaltung Europas ist nichts Ausgeschlossenes"

„Die Spaltung Europas ist nichts Ausgeschlossenes“

KTZ:
Gehören Sie zu jenen Optimisten, die die
Krise – die uns seit eineinhalb Jahren im Griff hat – insofern als
Chance sehen, als dass sie uns zu einem Wertewandel zwingen könnte?

Konrad
Paul Liessmann:
Ich zweifle an dem Slogan, dass jede Krise eine
Chance ist. Wenn das eine Chance wäre für einen Wertewandel, dann sind
zumindest noch kaum Anzeichen dafür zu sehen. Ich sehe auch nirgendwo,
dass wir bereit wären, das Finanzsystem, das Wirtschaftssystem, das
Gesellschaftssystem zu überdenken. Die Werte, die uns noch immer wichtig
sind, sind genau die Werte, die mitgeführt haben zu dieser Krise: Wir
sprechen nach wie vor von Wettbewerb, von Globalisierung, von
Internationalisierung. Und ich sehe auch keinen Ansatz eines
Wertewandels in der Hinsicht, dass das individuelle Streben nach Gier
und materiellem Erfolg in Frage gestellt würde. Die Politik wagt nicht
einmal unter Gerechtigkeitsaspekten, die Managerboni anzutasten.

Tatsächlich
scheint es, als halte die Politik in ihrem Kampf gegen die Krise
zwanghaft am Bisherigen – nicht zuletzt am neoliberalen Egoismus fest.
Wird das unsere Gesellschaft auf Dauer überleben?

Liessmann:
Es gibt unterschiedliche Szenarios: Natürlich beteuern alle, die EU
dürfe nicht zerbrechen, der Euro müsse gerettet werden. Es gibt aber
auch durchaus Stimmen, die sagen: Der Euro war ein waghalsiges
Experiment; und sie sehen die Option, wieder zu regionalen Währungen
zurückzukehren bzw. den Euro aufzuteilen in einen harten und weichen
Euro, also in einen Nord-Euro und einen Süd-Euro. Das heißt: Die
Spaltung des Kontinents ist nichts Ausgeschlossenes. Ich denke, es ist
schon auch eine Frage des politischen Willens. Und es ist eine Frage des
Mutes, sich tatsächlich mit jenen Kräften anzulegen, die dazu geführt
haben, dass ganze Volkswirtschaften von wenigen finanzkräftigen
Unternehmen in Geiselhaft genommen werden können.

Verdeutlicht
nicht gerade die Euro-Krise, dass das Wirtschafts- und Finanzsystem die
Politik an ihre Grenzen gestoßen hat?

Liessmann: Das ist
schon seit Längerem der Fall – seit der entscheidenden Wende 1989 ist
klar, dass das Finanzkapital – die Global Player, die Konzerne das
Kommando übernommen hat und die Politik vor sich hertreibt. Der
„Manager“ als die eigentliche Führungsfigur hat den Politiker längst
abgelöst. Es wird zusehends für alle sichtbar, dass die Wirtschaft das
Sagen hat.

Sie zweifeln, dass die Krise einen moralischen
Wertewandel mit sich bringen kann. Wird sie aber einen politischen
Wandel erzwingen müssen?

Liessmann: Man könnte natürlich
sagen, dass es notwendig ist, politische Alternativen zu entwerfen. Die
Frage, was notwendig ist, um dieses finanzmarktlastige System zu
regulieren und die Volkswirtschaften aus den extremsten Abhängigkeiten
zu befreien, bedarf einer mutigen politischen Entscheidung. Es ist ein
wirkliches Phänomen, dass die Krise als „Krise“ zwar die Schlagzeilen
beherrscht, sie aber in Österreich, Deutschland, den EU-Kernländern die
Menschen noch nicht wirklich erreicht hat. Nur weil ich in der Zeitung
lese „Krise“, hat sich bei mir ja noch nichts geändert: Ich verdiene
noch nicht weniger, meine Perspektiven sind intakt. Ich würde mir nicht
wünschen, dass die Krise so durchdringt, dass sie das Leben der Menschen
wirklich existenziell berührt …

Könnte das eine andere
Gesellschaft hervorbringen?

Liessmann: Das kommt darauf
an, wie wir die Krise bewältigen oder nicht bewältigen. Bisher haben wir
uns immer -ohne umzudenken – von einer Krise zur anderen gehantelt.
Wenn wir auch jetzt so weiterwurschteln können und sich der Euro wieder
stabilisiert, werden wir nach dieser Krise sicher keine andere
Gesellschaft haben. Und es wäre auch keine andere Gesellschaft, wenn
Manager statt acht Millionen vier Millionen verdienten; es wäre keine
andere Gesellschaft, wenn es die Finanztransaktionssteuer gäbe; wir
schaffen keine andere Gesellschaft, wenn wir vernünftig und klug
handeln. Aber wir werden eine andere Gesellschaft haben, wenn wir das
NICHT tun. Wenn Europa wirklich zerbricht, wenn die wirtschaftlichen und
sozialen Konflikte zunehmen, möchte ich mir jetzt nicht ausmalen
müssen, was für eine Gesellschaft das sein wird.

Karl Marx hat
vom Menschen als entmenschtem Wesen gesprochen – entmenscht von der
Produktivität, vom Tempo. Ist die Gesellschaft diesem Tempo nicht mehr
gewachsen?

Liessmann: Es gibt Beschleunigungen, die unser
Fassungsvermögen übersteigen. Das ist ja auch ein Aspekt der
Finanzkrise, dass diese hysterischen Aktienkurse auch dadurch zustande
kommen, dass nicht mehr Menschen entscheiden, was sie kaufen oder nicht
kaufen, sondern dass das der Computer macht, und zwar in
Millibruchteilen von Sekunden. Das sind Geschwindigkeiten, die wir
Maschinen überlassen, weil sie dem Menschen nicht mehr angemessen sind.
Eine Zurückgewinnung von Langsamkeit wäre interessant: Verbieten wir
Computer auf Börsen! Dann wäre vieles anders. Der Mensch müsste zuvor
überlegen, müsste selbst anrufen, will er kaufen oder nicht. Wir hätten
eine ganz andere Wachstumsstruktur.

Unendliches Wachstum gibt
es nicht: Sind wir am Wachstumsende angelangt?

Liessmann:
Das Interessante ist, dass die Krise der kapitalistischen Gesellschaft
immer eine Krise des Wachstums ist. Wir haben eine ganze Reihe von
Wachstumsgrenzen, weil die Ressourcen dieser Erde begrenzt sind – auch
die Arbeitskraft des Menschen: Wir arbeiten acht Stunden, wir könnten 14
arbeiten oder 18, aber irgendwann ist Schluss. Wir haben überall
Grenzen. Letztlich leben wir als endliche Wesen auf einem kleinen
Planeten mit endlichen Ressourcen. Ich halte die Idee vom unbegrenzten
Wachstum für eine Quelle des Übels.
KTZ, 30.5.2010 – Claudia Grabner